Tag 8 – von Göttingen nach Eisenach
Nach den gestrigen “Verzögerungen” wegen Stadtbesichtigung und Fahrradinstandsetzung bilde ich mir heute ein, es unbedingt bis nach Eisenach schaffen zu müssen. Das sind alleine schon mal ca. 700 Höhenmeter, die es zu bewältigen gilt – mit Fahrrad und drei Packtaschen – und rund 100 Kilometer Strecke.
Unterwegs entdecke ich zwei uralte Steinkreuze, die in eine Felswand gemeisselt sind, und in denen, sowie um sie herum sich zahlreiche sogenannte Wetzrillen befinden – ohne Frage früher ein Ort von hohem religiösen/spirituellen Stellenwert! Wetzrillen sind für Historiker nach wie vor Gegenstand kontroverser Spekulation. Während man früher davon ausging, diese seien durch das Schleifen von Messern entstanden (oder das rituelle Schärfen von Schwertern an einem geheiligten Orte), so wird heute auch eine Gewinnung von Sand für “magische Zwecke” (also etwa zur Erstellung eines Amuletts, oder einer magisch aufgeladenen “Medizin”) für denkbar gehalten.
Ich persönlich bin zumindest der Meinung, daß es wohl kaum einfach nur dem “banalen” Schärfen von Gegenständen diente, da Wetzrillen praktisch ausschließlich an in irgendeiner Form wichtigen Orten auftreten. Von dem her ist anzunehmen, daß eine bestimmte Form magischen, okkulten, oder schlicht “abergläubischen” Denkens involviert war. Und die eher runde Form vieler Wetzrillen weist für mich darauf hin, daß augenscheinlich zumindest teilweise die Gewinnung von Sand, den man dann wohl mitnahm (zu welchem Zweck auch immer) eine Rolle spielte. Ganz generell faszinierend finde ich aber, daß das früher offenbar “ein großes Ding war” – und zwar länderübergreifend (letztes Jahr entdeckte ich beispielsweise Wetzrillen an einer sehr alten Kirche in Verona), aber wir heute – ein paar Jahrhunderte später – überhaupt keine Ahnung mehr davon haben.
Die zwei Kreuze stehen in Verbindung mit einem etwa 1000 Jahre alten Kloster in unmittelbarer Nähe (Reinhausen, Niedersachsen), von dem heute nur noch die Kirche und Teile von Klostermauer und Funktionsgebäuden übrig sind – denn das Kloster wurde in der Reformation aufgelöst.
Weiters bringt der Tag leider große Anstrengungen wegen der vielen und teils starken Steigungen, sodaß ich an diesem Tag wohl das erste Mal an’s Aufgeben denke. Die Steigungen sind teils so stark, daß ich sie in vielen kleinen Teiletappen bewältige. Ich bleibe dann immer wieder am Straßenrand stehen und warte, bis sich Puls und Kreislauf wieder soweit stabilisiert haben, daß ich ein weiteres, kleines Stück des Weges anpacken kann. Augenscheinlich sind diese “Bergstrecken” für Radfahrer dermaßen unattraktiv, daß neben der Straße gepflanzte Kirschbäume völlig unbepflückt sind. Gut für mich, der ich mich mit den saftigen und vollreifen Kirschen regelrecht mäste. ^^
Irgendwann komme ich dann auf einer vollkommen unbedeutend wirkenden Landstraße an ein gigantisches Hinweisschild, das darauf aufmerksam macht, daß sich hier dereinst die DDR-Grenze befand. Ohne dieses Schild wäre mir das auch nie aufgefallen, denn alles sieht hier heute weit und breit ruhig, grün und friedlich aus, und von Zäunen, Grenzpfählen, Wachtürmen oder dergleichen fehlt jede Spur. Jetzt aber, da ich darauf aufmerksam geworden bin erkenne ich von diesem hohen Punkt in der Landschaft aus auf -zig Kilometern das sogenannte “Grüne Band” – den ehemaligen Todesstreifen! Was für ein kranker, monströser Aufwand – diese superweite Entfernung lückenlos zu bewachen, denke ich bei mir! Ein Glück, daß das vorbei ist!
Nun fahre ich kurioser Weise auf der praktisch schnurgeraden Linie vom westdeutschen Hamburg zum westdeutschen München durch das ostdeutsche Thüringen! Wo man sich hier befindet, merkt man gleich, wenn man im Supermarkt Born-Senf – den korrekten Senf zur Thüringer Rostbratwurst – in praktisch “Anstaltspackungen” 😉 à 1 Liter (!) findet.
Ebenfalls ein Phänomen hier sind die nur mehr als gigantisch zu bezeichnenden Felder, die sich ihre Ausmaße noch aus den “LPG”-Zeiten (= Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, für alle, die sich mit DDR-Dingen nicht mehr so gut auskennen) erhalten haben. Viele Häuser haben auch nach wie vor diese “kackbraune” Farbe, die früher flächendeckend an so ziemlich allen DDR-Gebäuden vorzufinden war. Indes, die ganz krassen Ruinen sind zwischenzeitlich fast alle verschwunden, die Straßen sind zu gefühlten 80% in wahrhaft erlesenem Zustand, und es gibt auch viele Neubauten. Diese indes oft nach wie vor irgendwie in einem kargen Stil – ganz, als fehlte hierzulande das Bewusstsein darum, wie man mittels Blumen oder sonstigen dekorativen Elementen einen gemütlichen, schönen Ort erschaffen kann.
Eine Cafébesitzerin, deren Geschäft da eine löbliche Ausnahme bildet erklärt mir später, daß ein Problem, mit dem hier immernoch einige zu kämpfen haben die ungeklärten Eigentumsverhältnisse sind: Erbengemeinschaften aus dem Westen können sich nicht einigen, wer nun was haben soll. Und selbst wenn sie sich einigen würden – sie sind weit weg…so fehlt die langfristige Bleibeperspektive, und somit eine Grundlage dafür, in die eigene Wohnstatt zu investieren. Ich merke, hier wäre im Grunde der Gesetzgeber gefragt, der all zu unfähige Eigentümer “im Westen” meines Erachtens notfalls zwangsenteignen sollte – denn der tägliche Alltag all derer, die hier seit Jahrzehnten wohnen hat klar mehr Gewicht als das abstrakte Eigentumsrecht irgendwelcher Erben, die oft keinerlei Bezug mehr zu diesen Gegenden hier haben, und mittlerweile ihr Leben wo anders aufgebaut haben.
Einer, bei dem alles bereits geklärt ist ist der Betreiber der Pension, in der ich in Eisenach übernachte: Er hatte das Haus, das einmal seiner Familie gehört hatte nach 1989 zurückerhalten, und es dann selbst zu einem schönen Gästehaus umgebaut – ein bemerkenswerter Mann! Ich erreiche Eisenach indes erst gegen 23:00 Uhr – kräftemäßig total am Ende, und mit einem mittelschweren Sonnenbrand auf Armen und Beinen (ich hatte mit dem Sonnenschutz erst angefangen, als die Haut bereits recht rot war – zu spät bemerkt…).
Zu meinem Zimmer gehört ein Bad mit großer Badewanne, die ich mir abends noch einlasse. Witziger Weise wird das (Neben-) Haus, indem ich untergebracht bin teilweise als Wohnhaus einer Familie genutzt, die Teile des Jahres über hier einziehen – deswegen ist das Ambiente äußerst privat und persönlich – vermutlich die skurrilste Übernachtung während meiner gesamten Reise!
Weil meine sonnenbrandgeschädigten Beine die Wärme nicht vertragen, genieße ich “unten” das warme Wasser, und lasse von oben kühles Wasser aus der Dusche auf meine rötlichen Beine pritscheln. Das ist angenehm. Uneins bin ich mir noch über die Frage, wie es die kommenden Tage weitergehen soll. Ich fühle mich einerseits etwas regenerationsbedürftig – andererseits zeigt die Erfahrung der zurückliegenden Tage, daß auf einen Tag mit viel körperlicher Leistung meist ein Tag mit erhöhter körperlicher Leistungsfähigkeit folgt. Bloß – mit der “Gewalttour” nach Eisenach habe ich es diesmal etwas übertrieben.